Hat jede Fraktion das Recht auf einen Bundestags-Vizepräsidenten?

Man mag von der AfD als Partei halten, was man will. Aber sie (bzw. der Umgang der anderen Parteien mit ihr) produziert immer wieder verfassungsrechtliche Praxisprobleme, die man bisher so nicht kannte.

Aktuell geht es um die Frage der Besetzung der Vizepräsidentenposten des Deutschen Bundestags. Die Geschäftsordnung (§ 2 Abs. 1 Satz 2) sieht an sich sehr deutlich vor:

Jede Fraktion des Deutschen Bundestages ist durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten.

Die Vizepräsidenten werden von den Fraktionen vorgeschlagen und anschließend vom Bundestag gewählt (§ 2 Abs. 2 Satz 1 GOBT):

Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält.

Dies ist an sich nur Formsache, alle Kandidaten bekommen in der Regel eine deutliche Mehrheit.

Alle AfD-Kandidaten bisher durchgefallen

Nun hat die Bundestagsfraktion der AfD schon den dritten Kandidaten für dieses Amt vorgeschlagen, jeder von ihnen ist bislang „durchgefallen“, wurde also nicht mit Stimmenmehrheit gewählt.

Dass einzelne Kandidaten nicht gewählt werden, sieht die GOBT durchaus vor. So heißt es schon kurz darauf (§ 2 Abs. 2 Satz 2 GOBT):

Ergibt sich im ersten Wahlgang keine Mehrheit, so können für einen zweiten Wahlgang neue Bewerber vorgeschlagen werden.

Aber irgendein Kandidat der Fraktion muss doch eine Mehrheit finden können, sonst bräuchte es die Festlegung in der Geschäftsordnung nicht.

Die Abgeordneten der anderen Parteien verweisen dabei häufig auf ihre persönliche Unabhängigkeit und die Freiheit des Mandats gemäß Art. 38 Abs. 1 GG:

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages (…) sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

Darum könnten sie nicht gezwungen werden, jemanden zu wählen, den sie politisch ablehnen. Diese Freiheit könnte auch nicht dadurch eingeschränkt werden, dass die Bundestags-Geschäftsordnung etwas anderes vorsehe.

Wie löst man diesen Konflikt nun auf?

Richtig ist, dass die GOBT als bloße Satzung keinen Verfassungsrang hat und auch die grundgesetzlich garantierte Freiheit des Mandats weder definieren noch einschränken kann. Insoweit kann es also auch keine Pflicht des einzelnen Abgeordneten geben, in einer bestimmten Weise abzustimmen, um die Vorgaben der Geschäftsordnung zu erfüllen.

Allerdings kann die Geschäftsordnung den Bundestag als Gesamtorgan verpflichten. Genauer gesagt: Er verpflichtet sich durch die Festlegungen in der Geschäftsordnung selbst. Die GOBT ist bindendes Recht, das nicht einfach übergangen werden kann.

Bundestag handelt rechtswidrig

Wenn die GOBT vorsieht, dass jede Fraktion im Präsidium vertreten sein muss, dann muss der Bundestag dafür sorgen, dass die Wahl zustande kommt. Der Bundestag als Ganzes kann sich nicht auf die Freiheit seines Mandats berufen, er muss also rechtmäßig handeln.

Wie er das nun tun kann, ist freilich nicht so einfach zu beantworten. Denn die handelnden Akteure sind ja gerade die einzelnen Abgeordneten, die die Geschäftsordnung nicht zu einem bestimmten Handeln verpflichten kann.

Eine Möglichkeit wäre, dass die übrigen Fraktionen, ggf. auch das bisher bestehende Präsidium, einen Kandidaten aus der AfD-Fraktion vorschlagen, der ihnen genehm ist und der dann gewählt wird.

Änderung der Geschäftsordnung möglich

Möchte man dies nicht, weil einem die Partei insgesamt zuwider ist, dann hilft nur eine Änderung der Geschäftsordnung:

  • Entweder man streicht das Recht auf einen Vizepräsidenten pro Fraktion ganz. Diese „lex AfD“ müsste man freilich gegenüber den Öffentlichkeit rechtfertigen. Ob es politisch sinnvoll ist, müssen die Verantwortlichen entscheiden.
  • Oder man ändert das Wahlverfahren dahingehend, dass eine Blockwahl aller Vizepräsidenten stattfindet, die man nur insgesamt wählen oder ablehnen kann. Dann muss kein Abgeordneter isoliert einem AfD-Kandidaten seine Zustimmung geben. Da aber momentan fünf von sechs Vizepräsidenten schon gewählt sind, müssten zumindest einige von diesen zurücktreten, damit anschließend eine Blockwahl mehrerer Kandidaten stattfinden könnte.

Solange dies nicht geschieht, steht die Zusammensetzung des Bundestagspräsidiums im Widerspruch zum geltenden Recht. Der Bundestag als bedeutendstes deutsches Verfassungsorgan handelt also illegal. Die einzelnen Abgeordneten können sich zwar auf ihr Gewissen zurückziehen und darauf pochen, dass sie niemanden wählen müssen, den sie nicht wählen möchten. Dann nehmen sie aber in Kauf, dass das Verfassungsorgan, dem sie angehören, einen rechtswidrigen Zustand beibehält. Ob man sich diesen Schuh aus rein symbolischen Gründen anziehen will, muss jeder Abgeordnete selbst wissen.

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