(Letzte Aktualisierung: 15.12.2025)
Text von Artikel 23 des Grundgesetzes
(1) Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.
(2) Der Bund kann durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz im Sinne des Absatzes 1 geändert oder ergänzt wird, gilt Artikel 79 Abs. 2 und 3.
(3) Der Bundestag und der Bundesrat wirken bei der Wahrnehmung der Rechte der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union mit. Die Bundesregierung hat den Bundestag und den Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten.
(4) Der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder wirken an der Gesetzgebung der Europäischen Union mit. Die Bundesregierung hat ihre Auffassung bei Verhandlungen im Rahmen der Europäischen Union zu berücksichtigen. Die Einzelheiten regelt ein Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf.
(5) Soweit in einem Bereich ausschließlicher Zuständigkeit der Europäischen Union Interessen der Länder berührt werden, ist ihre Stellung durch die Wahrnehmung der Rechte über den Bundesrat zu wahren. Soweit in anderen Angelegenheiten die Länder innerstaatlich zuständig wären, wirken sie bei der Wahrnehmung der Rechte der Bundesrepublik Deutschland mit. Die Einzelheiten regelt ein Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf.
(6) Die Bundesregierung gibt dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme vor ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Europäischen Union. Ihre Stellungnahme ist bei den Verhandlungen zu berücksichtigen.
Erläuterungen zu Art. 23 GG von Rechtsanwalt Thomas Hummel
Vom Länderartikel zum Europaartikel
Artikel 23 des Grundgesetzes hat einen tiefgreifenden Wandel durchlaufen. Ursprünglich – ab 1949 – listete er die (zum Teil falsch benannten) Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland auf und regelte, dass andere deutsche Gebiete diesem Geltungsbereich „beitreten“ konnten. Dies war insbesondere im Hinblick auf die DDR und die sogenannten Ostgebiete gedacht. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik 1990 wurde schließlich auf Grundlage von Art. 23 a.F. vollzogen – ein verfassungsrechtlich bedeutsamer Schritt, der Deutschland ohne neue Verfassung wiedervereinigte.
Europäische Integration als Staatsziel
Seit der Änderung 1992 im Zuge des Vertrags von Maastricht ist Art. 23 GG ein grundlegend anderer Artikel: Er wurde zum sogenannten „Europaartikel“. Nun verpflichtet das Grundgesetz Deutschland zur Mitwirkung an der europäischen Einigung. Die Bundesrepublik versteht sich seither ausdrücklich als Teil einer auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte gegründeten Europäischen Union.
Demokratische Kontrolle europäischer Entscheidungen
Besonderes Augenmerk legt Art. 23 auf die Beteiligung der nationalen Parlamente – insbesondere Bundestag und Bundesrat – an der EU-Gesetzgebung. Diese Mitwirkung soll sicherstellen, dass demokratische Legitimation auch auf europäischer Ebene gewahrt bleibt. Die Bundesregierung ist verpflichtet, die Parlamente frühzeitig und umfassend zu informieren. Dies ist essenziell, da ein erheblicher Teil des innerstaatlichen Rechts auf EU-Vorgaben beruht.
Schutz der Länderinteressen
Absätze 4 und 5 konkretisieren die Rolle der Bundesländer. Wenn Bereiche berührt sind, die eigentlich in die Zuständigkeit der Länder fallen würden, müssen diese über den Bundesrat mitwirken. Gerade in einem föderalen Staat wie Deutschland ist dies von großer Bedeutung für die Wahrung der Eigenstaatlichkeit der Länder innerhalb des EU-Gefüges.
Grundrechtsschutz und Integration
Voraussetzung für die europäische Integration ist, dass die EU einen dem Grundgesetz „im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz“ gewährleistet. Sollte dieser Schutz nicht mehr bestehen, wäre die Grundlage für die Übertragung von Hoheitsrechten entfallen. Die Rechtsprechung – etwa das berühmte „Maastricht-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts – hat hier immer wieder betont, dass es eine Integrationsgrenze gibt: die sogenannte „Identitätskontrolle“.
Verweis auf den früheren Art. 23
Art. 144 Abs. 2 GG verweist noch heute auf den Inhalt des alten Art. 23 GG, der eine Liste der Bundesländer enthielt. Diese Liste war nie korrekt und wurde mit der Wiedervereinigung obsolet. Der Verweis besteht jedoch bis heute weiter, obwohl Art. 144 GG praktisch keine Relevanz mehr hat – ein Kuriosum der Verfassungsgeschichte.
Rechtsprechung zu Art. 23 GG
- BVerfG, Urteil vom 12.10.1993 – „Maastricht-Urteil“: Grenzen der europäischen Integration und Bedeutung des Art. 23 GG.
- BVerfG, Urteil vom 30.06.2009 – „Lissabon-Urteil“: Identitätskontrolle und Mitwirkungspflichten der Parlamente.
- BVerfG, Beschluss vom 15.03.2022 – 2 BvE 3/21: Anforderungen an die Beteiligung des Bundestags bei EU-Ratbeschlüssen.
Fachartikel zu Art. 23 GG
- Christian Calliess, „Die Integrationsverantwortung des Bundestages nach dem Lissabon-Urteil“, ZaöRV 2010
- Martin Nettesheim, „Demokratiedefizit in der EU und die Rolle des Bundestags“, PVS 2015
- Rainer Wahl, „Der Europaartikel des Grundgesetzes“, APuZ 2004