Im Bemühen um die Neuregelung des Bundestagswahlrechts wird immer häufiger über die Möglichkeit eines sogenannten „Grabenwahlrechts“ besprochen. Zu diesem sollen hier einige verfassungsrechtliche Fragen geklärt werden.
Was ist ein Grabenwahlrecht?
Als Grabenwahlrecht bezeichnet man ein Wahlrecht, bei dem der eine Teil der Sitze komplett nach dem einen Wahlsystem, der andere komplett nach dem anderen Wahlsystem vergeben wird. Zwischen beiden Wahlsystemen findet aber keine Verrechnung statt, sondern die jeweilige Sitzverteilung geschieht völlig unabhängig von der anderen.
Woher stammt der Name?
Der „Graben“ im Begriff wird auf zweierlei Weise hergeleitet:
- Zum einen besteht zwischen beiden Wahlsystemen ein trennender Graben, weil es eben keine Verrechnung der Sitze gibt.
- Zum anderen spielte in den ersten Diskussion in der Bundesrepublik eine Rolle, dass die FDP in diesen Graben „fallen“ sollte, weil sie im Gegensatz zu Union und SPD keine Direktmandate gewinnen würde.
Wie funktioniert ein Grabenwahlrecht bei den Bundestagswahlen?
Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten.
Das bisherige Wahlsystem vergibt alle 598 Sitze nach dem Verhältniswahlrecht an die Parteien, die Erststimmen in den 299 Wahlkreisen entscheiden lediglich (zur Hälfte) darüber, welche Kandidaten diese Sitze einnehmen dürfen.
Ein Grabenwahlrecht, das möglichst nah an diesem System bleibt, könnte folgendermaßen funktionieren: Es bleibt bei 299 Wahlkreisen, die 299 Abgeordnete im Wege des relativen Mehrheitswahlrechts bestimmen. Außerdem werden 299 weitere Abgeordnete nach dem Verhältniswahlrecht an die Parteien vergeben. Für die Vergabe der letzten 299 Listenmandate ist es aber unerheblich, wie viele Abgeordnete die Partei bereits in den Wahlkreisen gewonnen hat, diese werden nicht angerechnet.
Ist dieses Grabenwahlrecht eine neue Erfindung?
Nein, ein solches Wahlrecht wird bereits seit den 50er-Jahren diskutiert. Es wurde jedoch damals vor allem aus Rücksicht auf die FDP nicht eingeführt, die sich beide damaligen Volksparteien (CDU/CSU, SPD) als Juniorpartner erhalten wollten.
Warum beseitigt das Grabenwahlrecht die Probleme des derzeitigen Wahlrechts?
Die meisten Probleme des aktuellen Bundestagswahlrechts geschehen durch die Anrechnung der Direktmandate auf die Listenmandate. Erreicht eine Partei in einem Land „zu viele“ Direktmandate im Vergleich zu ihrem eigentlichen Sitzanspruch aufgrund ihres Stimmenanteils, entstehen Überhangmandate, die ausgeglichen werden müssen oder zu Verzerrungen der Sitzverteilung führen.
Da es beim Grabenwahlrecht keine Verrechnung gibt, können Überhangmandate nicht entstehen. Wenn eine Partei in einem Land bspw. acht Direktmandate bekommt, aber nur Anspruch auf zwei Listenmandate hat, ist das für die Sitzverteilung ohne Belang. Die Partei erhält dann diese zehn Mandate, ohne dass es eines Ausgleichs bedarf.
Funktioniert das Wahlsystem auch mit Landeslisten?
Ja, problemlos. Entweder werden zunächst die Sitze auf die Länder verteilt und dann innerhalb des Landes die Sitze auf die Landeslisten aller Parteien im jeweiligen. Oder die Sitzverteilung erfolgt auf Bundesebene an die Parteien und anschließend anhand der jeweils erreichten Stimmenzahlen an die Landeslisten der Partei in allen Ländern.
Braucht es dafür eine Grundgesetz-Änderung?
Nein, das Grundgesetz sieht kein bestimmtes Wahlrecht vor. Festgelegt sind lediglich die Wahlrechtsgrundsätze in Art. 38 GG: Demnach wird der Bundestag „in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl“ gewählt.
Ein Grabenwahlrecht muss also lediglich diesen Grundsätzen genügen. Wie es dann genau ausdifferenziert wird, ist Sache des Gesetzgebers.
Ist das Grabenwahlrecht verfassungskonform?
Grundsätzlich spricht nichts gegen ein Grabenwahlrecht. Die Tatsache, dass die Sitze nach verschiedenen Wahlsystemen vergeben werden, widerspricht jedenfalls nicht den Wahlrechtsgrundsätzen.
Weiterhin müssen natürlich beide verwendeten Wahlsysteme verfassungskonform sein.
Bei einem reinen Verhältniswahlrecht, das ja seit Beginn der Bundesrepublik bei den Bundestags- und bei fast allen Landtagswahlen praktiziert wird, ist das unstrittig so.
Aber auch ein Mehrheitswahlrecht ist, wie das Bundesverfassungsgericht immer wieder betont hat, verfassungskonform. Insbesondere genügt es trotz seiner teilweise massiven Bevorzugung großer Parteien den Anforderungen der Gleichheit der Wahl. Dies gilt auch dann, wenn die Direktmandate keinen reinen Verrechnungsposten darstellen, sondern für die Sitzverteilung entscheidend sind.
Nähere Ausführungen dazu finden Sie hier: Die Wahlrechtsgrundsätze des Grundgesetzes
Was ist mit der Fünfprozenthürde?
Eine Sperrklausel ist grundsätzlich verfassungswidrig, da sie in die Gleichheit der Wahl eingreift. Denn sie führt dazu, dass Stimmen für Parteien unterhalb der (derzeitigen) Fünfprozenthürde völlig wegfallen. Damit ist ihr Wert nicht nur ungleich zu den übrigen abgegebenen Stimmen, sondern sie werden geradezu entwertet.
Sie ist nur ausnahmsweise zulässig, um zu verhindern, dass das Parlament zersplittert und es unmöglich wird, eine Regierungsmehrheit zu bilden. Beim derzeitigen Wahlrecht, das die Sitze allein nach dem Verhältniswahlanteil verteilt, hat das Bundesverfassungsgericht daher eine Sperrklausel von maximal fünf Prozent für zulässig erachtet, sofern ansonsten die Stabilität der Regierungsbildung konkret und realistisch gefährdet wäre.
Da bei einem Grabenwahlrecht bereits die Hälfte der Stimmen nach dem Mehrheitswahlrecht vergeben wird und sich so typischerweise auf größere Parteien konzentriert, wird eine Sperrklausel hinsichtlich der übrigen Sitze nicht zu rechtfertigen sein.
Welche Parteien würden von einem solchen Wahlrecht profitieren?
Gegenüber dem bisherigen Bundestagswahlrecht gäbe es für verschiedene Parteien verschiedene Vor- und Nachteile:
- Das Mehrheitswahlrecht bevorzugt tendenziell die großen Parteien, da diese am ehesten die Chance haben, in Wahlkreisen die meisten Stimmen zu erhalten.
- Dies gilt auch für Parteien, die nur in regionaler Hinsicht groß sind, also bestimmte regionale oder soziokulturelle Hochburgen haben (AfD in Ostdeutschland, Grüne in Großstädten).
- Das Verhältniswahlrecht ohne Sperrklausel begünstigt kleine Parteien, die bislang überhaupt nicht im Bundestag vertreten sind. Je nach Sitzzuteilungsverfahren können bereits ca. 0,17 % der Zweitstimmen für einen Sitz reichen.
- Negativ ist dieses Wahlrecht für „mittelgroße“ Parteien, die bislang schon im Bundestag vertreten sind, also über der Fünfprozenthürde liegen, aber kaum Direktmandate erhalten. Da die Verhältniswahlmandate nur noch 50 % ausmachen, halbieren sich tendenziell auch ihre Sitze.
Allerdings wird man davon ausgehen können, dass sich auch die Parteien auf dieses Wahlrecht einstellen werden, es also bspw. Absprachen geben wird, einen aussichtsreichen Kandidaten mehrerer Parteien aufzustellen. Insgesamt müsste man also abwarten, wie sich die rechtlichen und politischen Verhältnisse dieses Grabenwahlrechts entwickeln.