In der letzten Zeit hört man verstärkt die Frage, ob das Corona-Virus nicht auch für das deutsche Verfassungsleben gravierende Auswirkungen haben kann. Unter anderem wurde bereits diskutiert, ob der Bundestag im Falle dauernder Beschlussunfähigkeit durch eine Vielzahl von Erkrankten nicht durch ein anderes Gremium ersetzt werden könne. Dabei wird gemeinhin auf die „Notstandsgesetz“ verwiesen.
Dieser Artikel soll einige grundlegende Informationen dazu bieten.
Was sind die Notstandsgesetze?
Dieser Begriff ist in doppelter Weise irreführend.
Zum einen handelt es sich dabei im Wesentlichen nicht um Gesetze, sondern um Verfassungsbestimmungen. Diese befinden sich in Abschnitt Xa. (Art. 115a bis 115l) sowie in Abschnitt IVa. (Art. 53a) des Grundgesetzes.
Zum anderen behandeln diese Bestimmungen nicht jeglichen Notstand, sondern nur den Verteidigungsfall, der in Art. 115a Abs. 1 Satz 1 GG definiert ist: Verteidigungsfall bedeutet, dass „das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht“.
Kann man die Regelungen auf einen Krankheitsausbruch trotzdem anwenden?
Schwierig. Der Angriff mit Waffengewalt meint ganz offensichtlich eine feindliche Armee, die in das Bundesgebiet eindringt. Ein Virus ist aber etwas anderes als eine feindliche Armee.
Nun ist es in der juristischen Welt nichts Außergewöhnliches, dass man Regelungen, die auf eine bestimmte Situation eigentlich nicht ganz passen, trotzdem entsprechend anwendet („Analogie“). Dies setzt aber jedenfalls voraus, dass es eine sog. planwidrige Regelungslücke gibt.
Der Verfassungsgeber müsste es also schlicht übersehen haben, entsprechende Vorkehrungen für Krankheitsausbrüche zu treffen. Dies darf bezweifelt werden, zumal bspw. in Art. 11 Abs. 2 GG die Einschränkung der Freizügigkeit „zur Bekämpfung von Seuchengefahr“ erlaubt wird.
Man wird vielmehr davon ausgehen müssen, dass die Notstandsverfassung tatsächlich nur für den Kriegsfall gedacht ist und eine Erweiterung auf andere Ausnahmesituationen bewusst nicht vorgesehen wurde. Diese Entscheidung kann man dann auch nicht durch eine Analogie in ihr Gegenteil verkehren.
Kann der Gemeinsame Ausschuss trotzdem anstelle des Bundestags entscheiden?
Der Gemeinsame Ausschuss ist ein Notparlament, das aus einem Vertreter eines jeden Bundeslandes und doppelt so vielen Bundestagsabgeordneten besteht (Art. 53a Abs. 1 GG). Zusammen sind das also 16 + 32 = 48 Abgeordnete.
Der Gemeinsame Ausschuss nimmt die Rechte des Bundestags und Bundesrats wahr, wenn der Bundestag nicht zusammentreten kann oder nicht beschlussfähig ist (Art. 115e Abs. 1 GG). Voraussetzung ist aber, dass dies „im Verteidigungsfalle“ geschieht. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist also nur im Verteidigungsfall eröffnet, der aber – siehe oben – nicht vorliegt.
Der Bundestag kann auch nicht durch einfachen Beschluss seine Kompetenzen an den Gemeinsamen Ausschuss abgeben. Hierfür wäre eine Verfassungsänderung notwendig.
Was passiert, wenn der Bundestag dauerhaft beschlussunfähig ist?
Für die Beschlussfähigkeit des Bundestags muss mehr als die Hälfte seiner Mitglieder anwesend sein (§ 45 Abs. 1 BTGO). Sind also viele Abgeordnete erkrankt, kann es passieren, dass man diese Mehrheit nicht mehr zusammenbekommt und der Bundestag keine Beschlüsse mehr fassen kann.
Allerdings wird die Beschlussfähigkeit solange vermutet, bis sie formell festgestellt wurde – auch dann, wenn ganz offensichtlich nur eine Handvoll Parlamentarier im Saal ist. Wenn sich die Parteien einig sind, kann also auch ein Bundestag mit nur wenigen Abgeordneten Entscheidungen fällen.
Mehr dazu: Jura medial – Die Beschlussfähigkeit des Bundestags
Sicherheitshalber könnte man auch die Vorschriften über die Beschlussfähigkeit aufheben oder ändern, solange noch genügend Abgeordnete da sind. Hierfür ist nur eine einfach zu bewerkstelligende Änderung der Geschäftsordnung notwendig.
Braucht es den Bundestag in Krisensituationen überhaupt?
Tendenziell eher nicht. Akut notwendige Maßnahmen kann die Exekutive (Regierung, Verwaltung) verfügen. Das Infektionsschutzgesetz erlaubt weitgehende und tiefgreifende Einschränkungen von Grundrechten, wie man in den letzten Tagen erlebt hat.
Den Bundestag bräuchte man als Gesetzgeber, um neue Gesetze zu erlassen, die bspw. noch weitere Ermächtigungen der Exekutive erlauben. Dass das unabweisbar notwendig ist, ist aktuell nicht erkennbar. Dass man ad hoc immer neue Grundrechtseinschränkungen beschließt oder ermöglicht, ist auch nicht unbedingt sinnvoll.
Soweit es um die überwachenden Funktionen des Bundestags geht, können diese Aufgaben auch durch die „einsatzfähigen“ Abgeordneten wahrgenommen werden, ohne dass es formelle Sitzungen und Beschlussfassungen braucht.